Nichts genaues weiß man nicht
Das der Hund vom Wolf abstammt, weiß mittlerweile jedes Kind. (Wenn Ihnen jemand was vom Goldschakal erzählen will, weisen Sie ihn einfach darauf hin, daß Konrad Lorenz selbst seine Idee vor vielen Jahren aufgegeben hat.) Ob der Hund nun aber vor 14.000 Jahren entstand, wie die ältesten Knochenfunde belegen, oder ob der Hund vor ca. 130.000 Jahren entstand, wie eine Analyse der Mitochondrien-DNA ergab, weiß niemand so recht. Ziemlich sicher aber ist, daß der Hund das erste Tier war, welches vom Menschen domestiziert wurde – oder das sich selber domestiziert hat. Auch das weiß man nämlich nicht so richtig.
Aber was bedeutet Domestizierung denn in diesem Zusammenhang überhaupt? Das Wort stammt ja von Domus (lat. für Haus) und bedeutet wohl so etwas wie „An das Haus gewöhnen“. Schön und gut. Allerdings gab es zu der Zeit, als Hunde domestiziert wurden, noch keine Häuser. Und Primaten leben auch nicht in Höhlen, wohingegen Wölfe das durchaus tun. Es wäre also durchaus denkbar, daß die Menschen erst durch das Zusammenleben mit Wölfen bzw. Hunden auf die Idee kamen, in Höhlen zu leben und später dann auch Häuser zu bauen. Falls das so gewesen sein sollte, wäre die korrekte Formulierung ja wohl eigentlich, daß Hunde die Menschen domestiziert haben. Das ist selbstverständlich reine Spekulation – aber es ist zumindest eine interessante und reizvolle Überlegung.
Wie so häufig in der Wissenschaft gibt es verschiedene, sich teilweise widersprechende Theorien, wie, wann und warum der Wolf zum Hund wurde. Daher kann sich jeder die Theorie raussuchen, die ihm am besten gefällt – oder die ihm am plausibelsten erscheint.
Co-Evolution
Mir persönlich gefällt die Theorie am besten, auf die ich in einem Artikel von Prof. Dr. Wolfgang M. Schleidt, Co-evolution of humans and canids, gestoßen bin. Danach suchten die Wölfe von sich aus vermehrt die Nähe der Menschen, weil sie sich von den Abfällen ernähren konnten. Die Menschen profitierten davon, weil das Vertilgen der Abfälle hygienische Vorteile hatte und die Wölfe gleichzeitig als „Alarmanlage“ dienten. Durchaus vergleichbare Überlegungen haben auch Ray und Lorna Coppinger angestellt.
Die Wölfe, die die geringste Scheu vor Menschen zeigten, hatten ein besseres Nahrungsangebot und konnten sich deshalb verstärkt fortpflanzen. Dadurch entstand ein Selektionsdruck in Richtung Hund. Diese Annahme wird gestützt durch die Experimente von D. Belyaev, der auf einer Pelztierfarm Füchse ausschließlich auf Zutraulichkeit hin selektierte und dessen Füchse innerhalb weniger Generationen nicht nur recht zutraulich, sondern auch immer hundeähnlicher wurden (PDF-Datei ORF Science). Und auf der anderen Seite hatten die Menschen, die diese Wölfe nicht dulden wollten, einen echten Nachteil, weil ihnen Alarmanlage und Hygienebeauftragte fehlten, und konnten sich daher nicht so gut fortpflanzen wie die Menschen, die die Wölfe gern akzeptierten.
Je weiter die Annäherung von Mensch und Wolf (bzw. Hund) fortschritt, desto größer wurden die Vorteile des gemeinsamen Lebens. Die gemeinsame Jagd war für beide Seiten deutlich erfolgversprechender, und die Existenz von Wachhunden machte es leichter, feste Ansiedlungen zu gründen. Und die wiederum sind die Grundlage der Zivilisation.
Des weiteren wäre es durchaus denkbar, daß die Menschen erst durch den Hund auf die Idee kamen, Tiere zu domestizieren – schließlich gab es schon lange Zeit Hunde, ehe die ersten Schafe, Ziegen usw. gehalten wurden.
Homo homini lupus
Ein noch viel interessanterer Aspekt sollte noch angesprochen werden: Vergleichen wir unser Sozialverhalten mit dem unserer nächsten Verwandten, so gibt es wenig Übereinstimmung. Wenn man von der Fürsorge für den eigenen Nachwuchs absieht, gibt es in Schimpansengruppen relativ wenig Rücksichtnahme und Fürsorge. Wie anders verhalten sich Wölfe! Die als „Babysitter“ zurückbleibenden Jungwölfe werden von den jagenden Rudelmitgliedern mit Nahrung versorgt, trotz wildem Geknurrre und Imponiergehabe erhalten alle Wölfe ihren Teil der Beute, selbst verletzte Wölfe werden nicht im Stich gelassen. Dies ähnelt doch sehr stark dem, was Menschen als moralisches Verhalten anstreben – und oft genug nicht erreichen. Es sieht sehr danach aus, als hätten wir unser Sozialverhalten, wenn nicht gar unser Moralempfinden von den Wölfen gelernt.
Von daher ist unsere Zwischenüberschrift vielleicht sogar richtig: Im besten Falle ist der Mensch dem Menschen ein Wolf. Leider erreichen wir dieses Ideal nur sehr selten. Und nur am Rande sei erwähnt, daß dieses Zitat natürlich eigentlich die Bedeutung hat, der Mensch verhalte sich dem Menschen gegenüber unmenschlich. Wie seltsam …
Fazit
Es gibt sehr starke Hinweise darauf, daß wir ohne den Hund noch nicht mal ansatzweise den Entwicklungsstand erreicht hätten, auf dem wir heute sind. Sozialverhalten, Zivilisation, Tierhaltung – Grundlagen unserer Gesellschaft scheinen nur durch das Zusammenleben mit Hunden möglich geworden zu sein. Ist es da ein Wunder, daß so viele Menschen sich so stark zu Hunden hingezogen fühlen?